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Mit einer gehörigen Portion Abstand können wir endlich über unseren Abschied aus Afrika berichten – der finale Beitrag dieses Blogs, und eine emotionale Achterbahnfahrt, die wir bis heute im Herzen tragen.

Mein 42. Geburtstag, zwei Tage vor unserer Abreise Ende Mai. Morgens um Acht rücken die Möbelpacker an, um sechs Jahre Afrika in Kisten zu packen. Ich bin seit 4:30 Uhr wach, weil Julia mit unserem Hund in eine Klinik bei Durban gefahren ist – beim finalen Check für den Flug nach Deutschland sind Unregelmäßigkeiten im Blut festgestellt worden, ein Spezialist sieht sich die Werte an. Lean hat seinen vorletzten Schultag, seine Mitschüler haben eine Abschiedsparty für ihn organisiert. Alle paar Minuten klingelt es an der Tür: Freunde und Bekannte drücken mich, wischen sich Tränen aus den Augen, lassen Abschiedsgeschenke da. „We’ll miss you so much“, sagen sie. Die Familie aus Deutschland ruft an, um alles Gute zum Geburtstag zu wünschen. „Wir freuen uns auf Euch!“ Ich höre, dass ein Freund in München einen schweren Verkehrsunfall hatte, er liegt auf der Intensivstation. Während ich am Telefon bin, muss ich ständig Formulare für den Container nach Deutschland unterschreiben. Eigentlich bin ich mit Freunden zum Feiern verabredet, ein letztes Mal. Dann ruft Julia an. Khaleesi, unsere geliebte Hündin, ist schwer krank, ganz plötzlich, die Werte sehen nicht gut aus. Sollen wir die Flüge umbuchen? Kann einer von uns bleiben, um sich um sie zu kümmern? Aber unsere Visa laufen ab. Erst einmal muss ich Lean aus der Schule holen, aber was sage ich ihm? Die Packer bauen das Bett ab, das Schlafzimmer ist jetzt leer. Das Telefon klingelt wieder. Buyi, unsere gute Buyi, ist da, um uns in den letzten Tagen beizustehen. Sie weint. An der Tür klingelt es schon wieder. „You’re really leaving?“, sagt jemand. „I can’t believe it. You’re one of us now. Africa is in your heart.“

Nirgendwo in Afrika

Die Zeit des Abschieds hatte ungefähr drei Monate vorher begonnen. Plötzlich wurden wir fast jeden Abend eingeladen, ein letztes Mal, natürlich. Während bei allen anderen das Leben normal weiterging, wurde unseres auf den Kopf gestellt, schon wieder. Zum zweiten Mal mussten wir unser Leben auflösen, alte Zöpfe abschneiden, uns darauf vorbereiten, dass etwas Neues beginnt. „Wir wollen hier nicht weg“, sagte unser Herz. „Es gibt keine Alternative“, sagte der Verstand. Wir verabschiedeten uns jeden Tag ein bißchen mehr von unserem geliebten Haus, gingen zu Braais am Wochenende, verkauften unser Hab und Gut, das Auto, verschenkten das Gästebett, die Kaffeemaschine. Wir scannten Jobbörsen, beauftragten eine Maklerin in Deutschland, füllten die Anmeldeunterlagen für Leans Schule aus. Halbherzig planten wir die Zukunft, aber wir waren ja noch da, mittendrin im wilden Leben. In Mbongolwane ging der Alltag weiter, neue Kinder kamen nach St. Joseph, der Strom fiel aus, das Internet streikte. Bis zum letzten Tag waren wir Teil des Alltagschaos, schrieben Anträge, holten Babymilch, gingen ins Krankenhaus, sprachen Gebete mit den Schwestern. Einmal schickte mir Julia ein Foto mit einem Baby auf dem Arm, das sich an ihren Haaren festhielt. Fast dasselbe Bild hatte sie mir sechs Jahre vorher geschickt, als wir neu waren, als alles noch vor uns lag. Wir waren stolz auf das, was wir aufgebaut hatten, nirgendwo in Afrika. Und gleichzeitig unendlich traurig darüber, dass unsere Zeit zu Ende ging.

Der Hausbesitzer und der Dieb

Ein paar Monate vor unserer Abreise gingen wir zum letzten Mal auf Reisen, ein Roadtrip durch Südafrika, weil die Grenzen noch geschlossen waren. Die zweite Corona-Welle rollte. Wir fuhren durch ein verwundetes Land, wunderschön und leer, ohne Touristen, dafür mit mehr Arbeits- und Hoffnungslosen als zuvor. Einmal, an der Garden Route, lernten wir einen Mann kennen, der uns seine Geschichte erzählte. Ein paar Jahre vorher – mitten in der Trockenzeit – hatte ein riesiges Buschfeuer an der Küste gewütet und innerhalb von Stunden den Ort Knysna verwüstet. Im Auge der Zerstörung war er zu seinem Haus zurückgekehrt, um mit letzter Kraft gegen das Feuer zu kämpfen. In seinem Haus angekommen stand er einem Mann gegenüber, der gerade seine Wertgegenstände plünderte, mitten im Inferno. Er blieb ruhig, versprach ihm Geld im Tausch für seine Hilfe im Kampf gegen das Feuer. Zusammen kämpften sie, der Hausbesitzer und der Dieb, sie retteten das Haus vor dem Feuer und sahen sich danach nie wieder. Das Leben ging weiter, am Morgen ging wieder die Sonne auf. Das war für uns Südafrika: Ständig hört man Geschichten, die unglaublich erscheinen, vor allem für Europäer. Dinge, an denen Menschen zerbrechen können, furchtbare Unglücke, Krankheiten, Kriminalität. Aber das Leben geht immer weiter, man fängt neu an, stemmt sich gegen das Unglück – und findet inmitten der Zerstörung einen Schimmer der Hoffnung. Den Samen für einen Neuanfang.

Unsere Spuren in Afrika

In Mbongolwane hatten wir einen wunderschönen Abschied. Die Kinder, alle Mitarbeiter und Arbeitskollegen kamen zusammen. Wir hatten uns in Zulu-Tracht geworfen und kamen zu spät, weil wir eine halbe Stunde vor der Abfahrt noch einen Anruf erhielten: Wir sollten Ersatzteile für die Waschmaschine besorgen, das Essen abholen und noch kurz einkaufen gehen. Als es endlich losging, gab es tausend Reden, Ansprachen, Gesänge, Tänze, Selfies, Umarmungen. Die Kinder lachten und spielten, das Fleisch brutzelte auf dem Braai, die Musik dröhnte aus den Lautsprechern und wir spürten, wie tief die Spuren waren, die wir hinterlassen hatten. Es kann kaum ein besseres und gleichzeitig bittereres Gefühl geben. Zwei Tage später feierten wir eine große Party mit unseren Freunden. Der ganze Ort Eshowe gab sich die Ehre, draußen brannte das Feuer, drinnen wurde getrunken und getanzt und gelacht und geweint. Wir hielten eine lange Rede, sprachen über die überwältigende Freundlichkeit, die uns durch die Jahre in Afrika getragen hatte. Die verrückten Geschichten, die wir erlebt hatten. Unsere Freunde hatten eine Fotobox gebaut, in der sich jeder mit Bild verabschiedete, sie hielten ihrerseits Reden und bastelten Plakate. Bis heute haben wir es nicht geschafft, alle Nachrichten und Fotos zu lesen und anzusehen. Die meisten tragen sowieso dieselbe Botschaft in sich: „Okay, wir haben verstanden, ihr geht zurück nach Deutschland. Aber wir versprechen Euch: Irgendwann kehrt ihr zurück! Hier ist Eure Heimat.“

Goodbye, Khaleesi

An unserem letzten Tag in Eshowe starb unsere Hündin Khaleesi an inneren Blutungen, sie wurde nur zwei Jahre alt. Wir sind keine esoterischen Menschen, aber der zeitliche Ablauf war einfach nicht zu fassen, unglaublich. Mit gepackten Koffern, müden Augen und traurigen Herzen fuhren wir zum Konvent, um uns von den Schwestern zu verabschieden. Dort erwarteten uns die Kinder von St. Joseph, eine Überraschung zum Abschied. Sie ließen Luftballons steigen und sangen Lieder, während wir vom Hof fuhren. Eine Million Mal sind wir durch das Tor des Konvents Eshowe gefahren, links in Richtung Kreisverkehr, dann in Richtung Stadt, die Tankstelle links, die Metzgerei und der Markt rechts. Wir konnten nicht mehr, waren emotional am Ende. Schweigend fuhren wir nach Durban, PCR-Tests für den Flug machen. Am letzten Abend im Hotel fiel der Strom komplett aus, das Handynetz brach zusammen, wir saßen im Dunkeln. Tags darauf gaben wir das Auto am Flughafen ab. Am Eingang stand eine Menschentraube um einen Sänger mit einer Ukulele, überall waren Gesänge und Lachen zu hören. Wir boardeten den Flug QR 1368, von Durban über Doha nach Frankfurt. Als wir in Deutschland landeten, war der Flughafen menschenleer. Es regnete.

 

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