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Als Entwicklungshelfer in Afrika muss man flexibel sein – und Pläne über den Haufen werfen können. Ein paar Geschichten darüber, was das eigentlich bedeutet. 

Es ist ein Montag, als die Kulturen frontal zusammenstoßen. Eine deutsche Schwester, seit über 50 Jahren im Zululand, stellt am Mittagstisch eine Frage. „Sister“, wendet sie sich an ihre afrikanische Mitschwester. „Would you take me in your car on Friday morning, 9 o’clock?” Ihr Gegenüber verliert kurz die Fassung. Mit großen Augen sieht sie ihre hellhäutige Schwester an, bevor sich ihr Mund zu einem spöttischen Lächeln verzieht. „Ok sister“, sagt die Afrikanerin. „Please let us talk about it on Thursday. Today it is only Monday. Many things can happen until Friday.“

Pawlow’sche Hunde

Wir alle, Zulus und Europäer, lachten in diesem Moment. Dabei spiegelt er ganz gut die fundamentalen Unterschiede der Völker in Sachen Zeit, Planung und Flexibilität wider. Im Augenblick zu leben ist etwas, das man nicht lernen kann. Südafrikaner saugen die Fähigkeit mit der Muttermilch auf. Das Leben ist ein Fluss, in dem nur die nächste Welle zählt. Morgen ist morgen, nächste Woche ist nächste Woche, aber heute schreiben wir die Geschichte unseres Lebens. Europäische Kinder hingegen wachsen nach anderen Regeln auf. Wenn wir mit unserem Sohn reden, spielt die Zukunft eine große Rolle, Folgen und Konsequenzen seines Handelns. Er soll lernen, über den Moment hinaus zu denken. Dieses Verhalten wird ihn lebenslang prägen – selbst wenn sein Umfeld sich komplett anders verhält. So geht es nämlich uns hier in Südafrika. Wir verhalten uns wie pawlow’sche Hunde: Obwohl wir es eigentlich besser wissen, schwimmen wir gegen den Strom und versuchen krampfhaft, Pläne zu machen, Ordnung zu schaffen und langfristig zu denken.

 

Die Wanderung des Kalenders

Eins der Rituale, das die Unterschiede bildlich vor Augen führt, ist die Wanderung des Kalenders auf der Missionsstation. Neu gekauft, werden zu Jahresbeginn fleißig Termine eingetragen, bevor der Kalender in zentraler Position und für jedermann sichtbar aufgehängt wird. Ein paar Wochen später findet er sich hinter der Tür wieder, nicht mehr ganz so zentral. Dann hängt er plötzlich in einer dunkleren Ecke des Ganges. Spätestens im April hat er den finalen Ort seiner Wanderung erreicht: Zusammengerollt hinter dem Schrank im Medienraum. „Südafrikaner denken kurzfristiger als Deutsche. Der Fokus liegt auf der Vergangenheit und der Gegenwart“, sagt die interkulturelle Expertin Sybille Kenny. Um es anders zu formulieren: Nirgends könnte man weiter weg vom deutschen „Wo siehst Du Dich in zehn Jahren?“ sein als in Südafrika, wo Zeiträume von mehr als 48 Stunden als unbestimmte Zukunft verstanden werden.

Kein Plan? Locker bleiben

Der südafrikanische Weg ist einer des Ausbesserns, um Dinge kurzfristig in Ordnung zu bringen – was morgen ist, weiß nur der liebe Gott. Wir haben schon oft über die „Let’s make a plan“-Mentalität berichtet: Fünf Minuten vor einer Deadline überlegt man sich, wie es weitergeht. Für westlich geprägte Menschen fühlt sich das oft wie Treibsand an, in dem man versinkt: Tausend Dinge passieren gleichzeitig, kaum etwas klappt wie vorgesehen und plötzlich steckt man mittendrin in einem Kuddelmuddel, das kaum noch zu entwirren ist. Reed Hastings, Chef der Streamingplattform Netflix, hat nach seinem Studium zwei Jahre bei den Peace Corps in Swasiland gearbeitet, ganz in der Nähe unseres Einsatzortes in Südafrika. In einem Interview erklärte er einmal, dass ihm nach seinen Erfahrungen dort die Gründung eines Unternehmens in den USA keine Angst mehr eingejagt hätte. Ich glaube, er hat recht. Was Organisation und Planung angeht, kann man nach einigen Jahren in Afrika fast immer sagen: „Ich habe schon Schlimmeres erlebt!“ Man entwickelt ein dickes Fell und lernt, die Erwartungen an die Planbarkeit des Lebens zurückzuschrauben. Man lernt, flexibel zu reagieren, mit allen Unwägbarkeiten umzugehen, sich nie sicher zu sein. Nicht auf Meinungen zu beharren. Und natürlich: Locker zu bleiben und den Plan auch mal Plan sein zu lassen. Manchmal allerdings ist die Dosis zu hoch. Es gibt Tage, an denen das Chaos so vollendet ist, dass wir froh sind, zu entfliehen – und zu Hause das Abendessen zu planen.

 

Text & Fotos: fuexxe

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