Home > Tagebuch > Everyday Life > Erschöpfung

Nach knapp eineinhalb Jahren als Entwicklungshelfer im Zululand setzt momentan eine Phase der Erschöpfung ein. Die Arbeit in Mbongolwane ist fordernd, der ständige Wechsel zwischen den Welten geht an die Substanz. Zeit für eine Auszeit.

ersch8

ersch9

ersch3

ersch2

ersch1

Kürzlich klingelte morgens um 5:30 Uhr das Handy. Irgendwer wollte mal wieder mitfahren auf dem Weg nach Mbongolwane, und obwohl wir nicht ans Telefon gingen, war die ganze Familie wach. Eine Stunde später hatte Julia ein typisch vollgepacktes Auto: Eine Careworkerin, die kein Geld für den Taxibus hat. Eine Praktikantin, selbes Problem. Tüten mit Einkäufen fürs Kinderheim. Irgendwelche Kisten für den Konvent. Und die Eltern eines Jungen und eines Mädchens im Heim, beide HIV-positiv, die einen Termin im Krankenhaus hatten. Die Frau hatte Medikamente auf leeren Magen genommen, ihr wurde im Auto plötzlich schlecht. Julia musste in einem einsamen Waldstück halten, was man in Südafrika unbedingt vermeiden sollte. Die Frau fiel aus der Tür und übergab sich auf offener Strasse. Sie zog ihr Shirt aus, stand barbusig da, fächerte sich Luft zu, hyperventilierte, schrie. Julia stand hilflos daneben, redete beruhigend auf sie ein. Alle anderen blieben seelenruhig im Auto sitzen.

Es gibt Momente, in denen alles ein bisschen viel ist – und je mehr es davon gibt, umso grösser die Erschöpfung. Bei den Ärmsten der Armen brennt ein Haus ab, Julia sammelt Spenden. Im Kinderheim kursieren Masern-Epidemien und Ringwürmer. Nachmittags bringt man Essenspakete zu Menschen am Strassenrand, abends hört man Diskussionen zu, wo man sich am besten die Wimpern machen lässt. Am nächsten Tag Eltern, die ihren gesunden Kindern HIV-Medikamente geben. Dann Bettler, die ans Fenster klopfen: „Please Baas“. Überall Geschlechtertrennung. Meetings auf Zulu, obwohl alle Englisch sprechen sollten. Hochgeschminkte Mütter von verzogenen Tenniskindern. Mitarbeiter, die vor Trägheit im Stehen einschlafen. Schüler, die nur alle paar Wochen auftauchen. Diebesbanden, die auf dem Supermarktparkplatz Autos knacken. Schilder an Zulu-Hütten, die Frauen ohne langen Rock den Zutritt verweigern. Wir springen hin und her zwischen zwei Welten, in denen wir leben und agieren – und die Herausforderungen gehen an die Substanz. Im Grossen und Ganzen fühlen wir uns sehr wohl. Aber die Kraft lässt nach. Wie ein Duracell-Hase, dem die Batterie ausgeht. Aufladen dringend erforderlich.

Kürzlich kamen zwei völlig erschöpfte Kinder in St. Joseph an, beides Mädchen, abgewetzte Rucksäcke auf dem Rücken. Ein fremder Mann hatte sie auf der Strasse eingesammelt und gefragt, wohin sie unterwegs waren – und sie anschliessend mit dem Auto im Kinderheim St. Joseph abgeliefert. Die beiden waren vom Besuch bei Verwandten aufgebrochen. Tagelang hatte sich niemand um sie gekümmert, sie hatten nichts gegessen oder getrunken. Irgendwann haben sie ihren Rucksack gepackt und sind einfach losgelaufen. Aufgefallen ist das niemandem. Über fünf Kilometer waren sie in der sengenden Hitze auf der Strasse unterwegs, kein Ziel in Sicht, kurz vor der Dunkelheit. Die Kinder sind drei und fünf Jahre alt.

Eine Woche noch, dann fahren wir ein paar Tage weg, um neue Energie zu tanken. Zeit für eine Auszeit.

ersch6

ersch5

ersch7

ersch11

Text & Fotos: fuexxe

4 Comments, RSS

      Your email address will not be published. Required fields are marked *

      *