
In einem Monat werden wir in den Flieger nach Deutschland steigen. Zeit für eine Bilanz der vielen widersprüchlichen Gefühle, die der Abschied aus Afrika in uns auslöst.
Als wir im Mai 2015 nach Südafrika aufbrachen, war die Welt noch eine andere: In Deutschland ahnte niemand etwas von einer Flüchtlingswelle, das Wort Brexit gab es nicht und Donald Trump war ein amerikanischer TV-Clown, den niemand ernst nahm. Auch von einem Corona-Virus, das die Welt über Jahre in Beschlag nehmen würde, wusste keiner etwas. Klar war nur, dass sich unser Leben verändern würde: Von der Münchner Innenstadt ins afrikanische Zululand, wo wir mindestens zwei Jahre lang im Auftrag der Organisation Agiamondo im Kinderheim St. Joseph arbeiten würden. Als wir am Flughafen Durban landeten, betrat ich zum ersten Mal afrikanisches Festland. Im Empfangsbereich warteten zwei Schwestern auf uns, eine hielt eine Orchidee als Gastgeschenk in der Hand. Wir stiegen in einen Leihwagen und tuckerten mit Tempo 50 hinter ihnen über die Autobahn. Eine Reise mit unbekanntem Ziel.
Afrika und die Freiheit
Aus zwei Jahren sind sechs geworden; 2193 Tage werden wir am Ende in diesem Land gelebt haben. Nicht alle von ihnen waren gut, aber eben doch die meisten. Wenn ich ein Gefühl identifizieren müsste, das die letzten Jahre bestimmt hat, dann dieses: Freiheit! Jeden Morgen haben wir die Augen aufgeschlagen und waren gespannt, was der neue Tag bringen würde. Es gab Routine, aber nie so, wie wir das aus unserem alten Leben gewohnt waren. Als ob jemand einen Farbtopf über Deinem Leben ausgeschüttet hätte, und plötzlich stellst Du fest: Alles ist irgendwie bunter! Der Moment, wenn die Kinder aus Mbongolwane auf Dich zustürmen und ein Knäuel aus Freude und Zuneigung bilden. Wenn Du in einem Meeting sitzt, in dem plötzlich alle um Dich herum ein spontanes Lied trällern. Oder der Augenblick, in dem Du Auge in Auge mit einem Löwen im Nationalpark stehst. Wenn Du nach 30 Minuten Fahrt am Meer ankommst und von den Wellen verschluckt wirst. Oder wenn Du zum ersten Mal eine afrikanische Landesgrenze überquerst, inmitten von hunderten Leuten und betrunkenen Grenzbeamten. Wenn Du morgens um sechs beim Joggen die tausend grünen Hügel siehst, die sich vor Deinen Augen auftürmen, oder wenn Dein Sohn mit leuchtenden Augen hilft, ein Zuckerrohrfeld abzubrennen. Oft waren traurige Momente dabei, Not und Elend waren uns ständig ganz nahe. Wir haben erlebt, was HIV und TB und Covid-19 und Alkoholismus anrichten können, wir haben den Tod gesehen und den Umgang damit. Wir haben Freunde begraben und neue gewonnen, und inmitten all dieser Erfahrungen haben wir gemerkt: Afrika hat sich wie ein unsichtbares Virus in uns ausgebreitet!
Rassismus vs. Lebensgefühl
Das Gute ist, dass auch Deutschland immer ein Teil von uns geblieben ist. Nicht nur, dass wir überall „the Germans“ genannt wurden; unser Denken und Handeln war bis zum Schluss davon geprägt, was wir in unserer ersten Heimat gelernt hatten. Frust darüber, wie langsam die Dinge vorwärts gehen, ein unbedingter Wille, effizient zu arbeiten, langfristige Planung, direkte Kommunikation – all das haben wir nicht ablegen können. Oft hatten wir das Gefühl, trotz aller Anpassung und Liebe zu diesem Land ein Fremdkörper zu bleiben. Alltäglicher Rassismus, wachsende Armut, ein korrupter Staatsapparat, der Kampf der Hautfarben, fragwürdige Erziehungsmethoden, politische Einstellungen und last but not least diese furchtbare Pandemie: Letztlich gibt es viele rationale Gründe, warum wir schon längst ins sichere Europa geflüchtet sein sollten. Warum sich dieses Gefühl nicht so recht einstellen will, darüber haben wir in diesen langen Wochen des Abschieds viel nachgedacht. Manchmal fühlt es sich so an, als ob wir selbst die Dinge vermissen werden, die man überhaupt nicht vermissen sollte.
Der Aufbau eines neuen Lebens
Wir sind dankbar dafür, was wir hier erleben durften. Aber auch stolz, die Gelegenheit, die sich uns geboten hat, beim Schopf gepackt zu haben. Wir sind hierher gekommen mit nichts, mussten uns alles selbst erarbeiten, neu anfangen und ein neues Leben aufbauen. Das haben wir weitgehend geschafft. Viele Menschen sagen uns, dass wir tiefe Spuren hinterlassen haben, sowohl am Arbeitsplatz in Mbongolwane als auch in der kleinen Community, in der wir jahrelang gelebt haben. Irgendwie ist immer alles gut gegangen: Die zahllosen Fahrten auf gefährlichen Straßen, das Leben inmitten von Protesten und Armut, die Besuche in Durbans Townships, wo Julia Kinder abholen musste. Gleichzeitig wurden wir überall mit offenen Armen empfangen. Am ersten Tag in Leans Kindergarten kamen wir ins Gespräch mit Eltern, die heute unsere besten Freunde sind. Überhaupt: Vieles ist unserem Sohn zu verdanken, der unsere Eintrittskarte in die Lebenswelt einheimischer Familien war. Für ihn wird der Kulturschock gewaltig, denn in seiner Erinnerung gibt es nichts anderes als das Leben in Afrika. Auf der anderen Seite hat er von klein auf gelernt, dass der Alltag mit seinen Eltern immer ein Abenteuer ist. Das wird sich auch nach Afrika nicht ändern. Gottseidank.
Text & Fotos: fuexxe
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