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Sein halbes Leben hat er in Südafrika verbracht, Deutschland ist für ihn nur eine verschwommene Erinnerung. Unser bald sechsjähriger Sohn ist ein Third Culture Kid – mit allen Vor- und Nachteilen.

Als Lean 2015 mit uns nach Südafrika ausreiste, war er drei Jahre alt. Schon damals war er für sein Alter weitgereist, aber trotzdem ein Münchner Kindl, das Brezen liebte und auf Spielplätzen im Glockenbach zuhause war. Dann begann unser Abenteuer im Zululand, und sein Leben nahm eine neue Wendung. Er begann, die Welt als mobilen und flexiblen Ort kennen zu lernen. Für ihn fühlt es sich normal an, ständig Abschied zu nehmen, neue Leute kennen zu lernen und an fremden Orten zu leben. Mit seinen Großeltern auf Skype zu kommunizieren, das Sandmännchen zeitversetzt zu gucken und bei Besuchen das Flugzeug zu nehmen. Er hat sein halbes Leben in Südafrika verbracht und kann sich nichts anderes mehr vorstellen. Für ihn ist das Zululand ein Ort voller Abenteuer: Wilde Tiere, Stampftanz, Meer, Strand und brennende Zuckerrohrfelder. Seine Freunde in der Schule und der Luxus, zwölf Monate im Jahr barfuß herumzulaufen.

„Sie fliegen, bevor sie laufen können, und teilen ihre Freunde nach Kontinenten ein. Fragt jemand nach ihrer Heimat, sind sie ratlos“, heißt es in einem SPIEGEL-Artikel, der sich mit Third Culture Kids beschäftigt. Der Begriff stammt aus den USA und meint Kinder, die in einer fremden Kultur im Ausland aufwachsen, meist im Schlepptau ihrer Eltern, die als Diplomaten, Entwicklungshelfer oder Geschäftsleute durch die Welt tingeln. Einerseits verfügen diese Kinder schon im frühen Alter über einen großen Reichtum an kulturellen Erfahrungen, andererseits wird ihnen nachgesagt, dass sie nur schwer Wurzeln schlagen können, weil sie selbst keine richtigen haben. Neben der Kultur ihrer Eltern und der des Gastlandes entwickeln sie eine Mischform, die als Drittkultur bezeichnet wird – und ihnen ihren Namen gibt.

Drei Tage nach unserer Ankunft steckten wir Lean in den Kindergarten, obwohl er weder die sozialen Codes beherrschte noch die Sprache. Wir warfen ihn ins kalte Wasser, und tatsächlich klappte es vom ersten Tag an: Er verstand sich blendend mit allen anderen Kindern und den Erzieherinnen und war – nach einer kurzen Lernphase – bald so kommunikativ wie in seiner frühen Jugend in Deutschland. Nach einem halben Jahr konnte er sich in einfachen Sätzen auf Englisch unterhalten, nach zwölf Monaten sprach er flüssig Englisch und ein paar Brocken isiZulu. Inzwischen spricht er so gut, dass er ständig unsere Aussprache verbessert. Probleme hat er eher mit der deutschen Sprache; meist kommt ein wilder Mix aus Deutsch und Englisch aus seinem Mund, wenn er aus dem Kindergarten kommt. Trotzdem ist sein spielend leicht erlerntes Englisch ein Geschenk für die Zukunft. „Bilingual children are more facile at concept formation and have a greater mental flexibility”, sagt der Sprachexperte Douglas H. Brown.

Weißer Fleck im braunen Meer

Es kann aber auch verwirrend sein, in unterschiedlichen Kulturen zu leben. Aus der Schule heimgekommen, stellt er manchmal schwierige Fragen: „Ich sehe immer ein Mädchen, das mit seiner Mama an der Straße sitzt und Kartoffeln verkauft. Warum muss das Mädchen nicht in die Schule?“ Oder: Warum werden die ‚Braunen‘ und die ‚Inder‘ nach der Schule mit dem Sammelbus abgeholt und die ‚Weißen‘ mit dem Auto?“ Er hat eine schwarze Nanny, mit der er lange Spaziergänge macht und die Nachmittage verbringt. Und er spürt, dass er anders ist. Wenn er nach Mbongolwane kommt, stürzen sich die Kinder auf ihn, fassen ihm ins Gesicht, an Arme und Beine, ziehen an seinen weichen, blonden Haaren. Manchmal kommt es vor, dass Erwachsene im Supermarkt ihm in die Backen kneifen oder ein Foto mit ihm machen wollen. Diese Nähe empfindet er manchmal als unangenehm; es fühlt sich komisch an, der einzige Andere unter vielen Gleichen zu sein. Gottseidank hält es ihn aber nicht davon ab, als hellhäutiges Kind mit einem Pulk schwarzer Mädchen und Jungen zu spielen. Er hat sich daran gewöhnt, ein weißer Fleck in einem braunen Meer von Menschen zu sein.

Wir sehen seiner Entwicklung mit Erstaunen zu. Natürlich gibt es Hochs und Tiefs, aber insgesamt scheint er den ständigen Veränderungen in seinem Leben nicht mit Angst, sondern mit positiver Energie entgegen zu treten. Laut Studien sind Third Culture Kids deutlich selbstbewusster als andere, wenn es darum geht, mit neuen Situationen fertig zu werden. Sie sind öfter bereit, Risiken einzugehen und treten Herausforderungen bestimmter entgegen als gleichaltrige One Culture Kids. Ältere Expat-Kinder haben kaum Berührungsängste, wenn sie in ein anderes Land gehen sollen, um dort zu studieren. Durch ihr lebenslanges Training haben sie gelernt, sich auf neue Umgebungen einzustellen und schnell neue Freunde zu finden. Oft führt ihr ständiges Kommen und Gehen auch dazu, dass sie im späteren Leben einen sehr internationalen und interkulturellen Freundeskreis haben. Dafür haben sie Probleme, wenn es um tiefe und enge Beziehungen geht. Wahrscheinlich hat dieses Verhalten mit Selbstschutz zu tun: Sie sind daran gewöhnt, lieb gewonnenen Menschen nach ein paar Jahren wieder Lebewohl sagen zu müssen.

Bei einem Trip nach St. Lucia an der Ostküste lernten wir einen jungen Mann kennen, der als Kind südafrikanischer Diplomaten in der Schweiz, dem Nahen Osten und Asien aufgewachsen war. Nach Jahren der Suche hatte er ein kleines Guesthouse eröffnet und sich an der Küste von KwaZulu-Natal niedergelassen. Wir kamen auf Lean zu sprechen, und er berichtete uns davon, wie sich seine Kindheit als Third Culture Kid angefühlt hatte. „Don’t get me wrong, I had a wonderful childhood. And your child looks like a happy boy“, sagte er mit einem Lächeln im Gesicht. „But please: Don’t blame him later, when he doesn’t grow roots and doesn’t have a direction in life.” Wie fast jeder Aspekt unseres Einsatzes hat auch der Einfluss auf unseren Sohn zwei Seiten: Einerseits geben wir ihm die Chance, als Weltbürger aufzuwachsen, andererseits nehmen wir ihm die Möglichkeit, tiefe Wurzeln zu schlagen.

Das Gute an Kindern ist: Sie nehmen jede Herausforderung an – egal in welcher Kultur sie aufwachsen! Aus unserem Münchner Kindl ist in Rekordgeschwindigkeit ein südafrikanisches Farmkind geworden. A true South African oke! 

Text & Fotos: fuexxe

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