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Knapp 30 Kinder leben im Kinderheim, die Gesichter wechseln häufig. Abschiede sind immer schwierig, aber manchmal noch ein bißchen härter als sonst. So wie bei Silindo*, 5 Jahre alt.

Ich kann mich genau an den Tag erinnern, an dem wir Silindo kennenlernten. Julia schickte ein Foto von ihr beim Spielen und schrieb: „Guck mal, ein neues Kind. Ich glaube, in die habe ich mich verliebt.“ Silindo war drei, als sie mit ihrem kleinen Bruder nach Mbongolwane kam. In den ersten Wochen war es schwierig mit ihr. Sie sagte kein Wort, weinte viel. Nachts hatte sie furchtbare Alpträume. Trotzdem war sie ein besonderes Kind. Nachdem sie sich an unsere Hautfarbe gewöhnt hatte, wuchs ihr Vertrauen mit jedem Tag. Sie spielte gerne, war kokett, ihre braunen Augen leuchteten, wenn sie uns sah. Jeden Morgen bekam Julia ein Lächeln, und mit jedem Monat, der ins Land ging, sprach Silindo ein paar Worte mehr. Es tat gut, zu beobachten, wie sie in St. Joseph aufblühte. Sie liebte es, in den Kindergarten zu gehen, mochte Musik, konnte schmollen wie ein Teenager. Nur wenn sie tanzte, sah man das Baby in ihr: Sie bewegte sich so ungeschickt, als sei sie grade frisch geschlüpft.

Am Tag, als sie ging, verabschiedete sich niemand von ihr. Nicht die anderen Kinder, nicht die Betreuerinnen. In aller Früh zog sie ihre Sonntagskleider an, stieg ins Auto und fuhr mit der Sozialarbeiterin von St. Joseph zu einem Gerichtstermin. Eigentlich Routine, normalerweise wird bei solchen Terminen die Unterbringung im Heim verlängert. Doch dieses Mal war es anders. Der Richter entschied, dass Silindo und ihr Bruder sofort zur Mutter zurückkehren sollten; die Sozialarbeiter der zuständigen Behörde hatten beim Papierkram geschlampt.  Silindo kam an diesem Tag nicht nach St. Joseph zurück. Sie durfte nicht „Bye Bye“ zu ihren Freunden sagen, bekam keine Party und keinen Kuchen zum Abschied. Stattdessen verließ sie den Gerichtssaal mit ihrer Mutter, um zurück in das Zuhause zu gehen, das sie zwei Jahre vorher verlassen hatte, weil es zu gefährlich geworden war.

Abschiede haben in St. Joseph Konjunktur

Von den 30 Kindern, die in St. Joseph leben, sind in den vergangenen Monaten acht zurück in ihre Familien gegangen. Abschiede haben in St. Joseph also Konjunktur, genau wie Neuanfänge. Erst in der vergangenen Woche sind ein Baby und ein Kleinkind in Mbongolwane angekommen, insgesamt gibt es sechs neue Gesichter, die das Kinderheim mit Leben füllen. Allerdings ist St. Joseph nicht das Ende ihrer Reise, sondern eine Übergangslösung. Während die Kinder in St. Joseph leben, versuchen Sozialarbeiter des Department of Social Development die Familie zu stabilisieren, damit irgendwann eine Wiedervereinigung möglich ist. Wenn keine Eltern mehr da sind – etwa, weil sie an AIDS oder anderen Krankheiten gestorben sind – versuchen die Behörden, die Kinder über kurz oder lang bei blutsverwandten Angehörigen unterzubringen. Adoptionen gibt es kaum, weil die gesetzlichen Hürden extrem hoch sind. Die leibliche Familie, das eigene Blut, ist im Zululand heilig. Das merkt man auch am Umgang mit den Kindern von St. Joseph.

Verschwundene Puzzleteile

Manche bleiben trotzdem jahrelang bei uns, weil sich die Situation in den Familien auch langfristig nicht verbessert. Die Mühlen in den Ämtern mahlen langsam, die Motivation vieler Mitarbeiter in den Büros geht gegen null. Oft verändert sich lange nichts und dann plötzlich ganz viel. Das macht die Arbeit schwierig: Die Betreuerinnen wissen bei der Ankunft eines neuen Kindes nicht, ob es sechs Monate oder fünf Jahre lang bleibt. Deshalb wird es sofort in feste Abläufe in St. Joseph integriert, in gemeinsame Aktivitäten und natürlich in Kindergarten oder Schule. Für individuelle Therapien reichen die Kapazitäten selten, ohnehin ist es schwierig, qualifizierte Leute auf die Missionsstation mitten im Busch zu bekommen. Stattdessen soll das Kinderheim ein zweites Zuhause sein – und die Betreuerinnen Ersatzmütter für Kinder, die mit viel Ballast nach St. Joseph kommen. Plötzliche Abschiede wie bei Silindo sind hart für alle Beteiligten. Ein bißchen fühlt es sich an, als ob ein Familienmitglied verschwunden wäre. Ein Puzzleteil im Alltag fehlt – bis ein paar Wochen später ein neues Puzzleteil auftaucht, das ein neues Bild entstehen lässt.

Aber ein Puzzleteil wie Silindo gibt es kein zweites Mal.

Text & Fotos: fuexxe, *Name geändert

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